Das Lindengut - ein Stück Flawiler Geschichte

von Gustav Bänziger

Wenn wir über die Vergangenheit des heutigen Lindengutes einiges aus dem Dunkel der Geschichte hervorholen können, so ist das weitgehend der Vorarbeit und den Forschungen von Willi Stahel, aber auch unseres unverges-senen, 1968 verstorbenen Lokalhistorikers Alfred Hofmann zu verdanken. Willi Stahel war es aufgrund seiner reichen Kenntnisse und Forschungen in den Handänderungsprotokollen der Jahre 1838 bis 1849 möglich, die Besitzfolge dieser Liegenschaft festzulegen. Mit seinem bedeutsamen Werk über die Flawiler Fuhrleute brachte Alfred Hofmann ebenfalls Licht in die Geschehnisse in und um das heutige Lindengut. So blieb dem Chronisten noch die Aufgabe, Zusammenhänge herauszufinden und in der nun vorliegenden Form aufzuzeichnen.

 

Das Lindengut zur Zeit der Flawiler Fuhrleute

 

Es zeigte sich, dass diese Liegenschaft im Feld, wenn auch nur im begrenzten Masse, in dem Buch von Hofmann über die Flawiler Fuhrleute eine Rolle spielte. Dabei muss auf das bedeutsame Fuhrmannsgeschlecht der Lenggen-hager hingewiesen werden, welches die sogenannte Basler­fuhre besorgte. In den 1760er Jahren, so schrieb Alfred Hofmann, war es Johannes Lenggenhager (1722 bis 1778), welcher fast ausschliess­lich für die Firma Zilli in St.Gallen seinen Fuhrmannszug nach Basel führte. Vorerst bescheiden mit einem Ross und Wägelchen auftretend, konnte er dank seiner Findigkeit und Zuverlässigkeit bald seinen Wagenpark ver­grössern. Speziell dessen Sohn Johann Georg Lenggenhager (1744 bis 1828), der bald in die Fussstapfen seines Vaters trat, verstand es, auch

dank seiner reichen Frau, sein Ansehen und seinen Reichtum zu mehren.

 

Zur Zeit der Schaffung des Kantons Säntis im Jahre 1798 wurde neben Hauptmann Johann Ulrich Egli, Landes-fähnrich Steiger und Pfleger Kunz auch Lenggenhager zum Wahlmann der Gemeinde Oberglatt erkoren. Wenige Jahre später wurde ihm der Transport von Glocken von Konstanz nach Oberglatt anvertraut. Als im Jahre 1805, anlässlich der Liquidation des ehemaligen Stiftes St.Gallen, der grosse Bauernhof in der Riedern versteigert wurde, war Johann Georg Lenggenhager in der Lage, diese Liegenschaft um 5020 Gulden zu erwerben. Im Jahre 1804 passierten für die Lenggenhager entscheidende Dinge. Zum ersten wurden Vater Johann Georg Lenggenhager und seine beiden Söhne Johannes (1776 bis 1832) und Hans Georg (1780 bis 1832) gegen eine Gebühr von 55 Gulden pro Mann ins Flawiler Bürgerrecht aufgenommen. Zudem wurde zwischen Vater und jüngerem Sohn folgender Kauf- und Verordnungsakt abgeschlossen:

 

1. Giebt Herr Lenggenhager Vater, besagtem Sohne das in Flawyl auf dem Feld stehende Haus samt dessen beyden Äckeren, um Gulden 4500.- zu kaufen, mit der Bedingnis, dass solange der Vater lebt, der Sohn von dieser Summe kein Interesse zu bezahlen schuldig seye.

2. Ist feyerlich abgeredet und angenommen worden, dass nach Absterben des Herrn Lenggenhager Vaters benannter Sohn das Fuhrwerk, welches der Vater dato in Besitz hat, als ganz eigentümlich ohne Bezahlung übernehmen könne.

3. Solle Herr Lenggenhager Sohn von seinem Vater von dem Fuhrwerk her von dato an alle Jahre Gulden 220.- baares Geld zu beziehen haben.

 

Bei diesem oben geschilderten, auf dem Feld stehenden Hause muss es sich eindeutig um das heutige Lindengut handeln. Wfir stellen fest, dass also um 1804 dieses Haus und diese Liegenschaft zum erstenmal urkundlich erwähnt wurden. Es ist nicht bekannt, zu welchem Zeitpunkt Vater Lenggenhager es erwarb. Wir dürfen annehmen, dass es Ende des 18. Jahrhunderts von einem heute unbekannten Bauherrn errichtet worden ist.

 

Johann Georg Lenggenhager Sohn

 

verheiratete sich am 6. November 1804 mit Anna Elisa Kuhn, der Tochter des Kantonsrats Isaak Kuhn von Oberuzwil. Da kurz vorher die bekannte Kauf- und Verordnungsakte abgeschlossen wurde, kann angenommen werden, dass das neuvermählte junge Paar im Hause im Feld Quartier genommen hatte. Von Seiten des Vaters des jungen Mannes war durch die erwähnte Akte ein solider Grundstock gelegt worden, welcher dem jungen Paar ein standesgemässes Leben und dem neugebackenen Ehemann die Möglichkeit geschaffen hätte, sich dem einträg-lichen Transportwesen widmen zu können. Die Räumlichkeiten für das Fuhrmannsgewerbe waren vorhanden. Aber es kam anders. Alfred Hofmann schreibt, dass dieser jüngere Sohn Lenggenhagers seinem Vater und dem Geschlecht der Lenggenhager keine Ehre machte. Der Mann war ein Tunichtgut, und sein Vater musste ihn mehrere Male unter Vogtschaft stellen. Seine ihm angetraute Gattin war nicht länger bereit, ihrem leichtsinnigen Ehegemahl an der Seite zu stehen und liess sich nach wenigen Jahren von ihm scheiden. So hatte alles Gutmeinen des besorgten Vaters keinen Erfolg. Erstaunlich ist, dass bereits am 9. Januar 1810 Anna Elisabetha Dautle (Dudli), die Tochter des Flawiler Chirurgen Dudli, welcher vermutlich in der Gegend des heutigen Bierhofes wohnte, den Versuch wagte, dem bekannten Tunichtgut vertrauensvoll die Hand zum Ehebund zu reichen. 

 

Aber auch die zweite Ehe hatte keinen Erfolg. Mit allen Mitteln versuchten Vater und Bruder Voraussetzungen zu schaffen, um den jungen Mann aus seinem grenzenlosen Leichtsinn herauszuholen. Diesem gelang es, durch eine unfassliche Verschwendungssucht innert weniger Jahre ein Vermögen von 15‘000 Gulden durchzubringen. Seine zweite Frau, welche ihm einen Sohn und eine Tochter schenkte, starb enttäuscht und verbittert mit 40 Jahren. Als im gleichen Jahr 1828 auch der angesehene Vater im hohen Alter starb, gab es für Johann Georg Lenggenhager keinen Halt mehr; nur vier Jahre später, 1832, war sein durch Ausschweifungen aller Art gezeichnetes Leben zu Ende.

 

Auch sein Bruder Johannes, welcher in der Gegend der heutigen Bankgesellschaft[1] in Flawil von seinem Vater ein blühendes Fuhrmannsunternehmen übernommen hatte und im Dorfrayon von Flawil über verschiedene Wies- und Ackerparzellen verfügte, wurde vom Glück verlassen. Um 1829 musste er den Konkurs anmelden. Die Gebäulich-keiten im Dorfzentrum samt Platz und Garten wurden vom Tochtermann Hans Georg Reufer-Lenggenhager erworben, zum Betrag von 7000 Gulden. In späteren Jahren wurde dann auf diesem Gelände der ehemalige "Hecht" erstellt, welcher um 1914 dem Neubau der Schweizer­ischen Bankgesellschaft weichen musste. Johannes Lenggen-hager starb im gleichen Jahr wie sein Bruder. Die beiden Kinder von Hans Georg Lenggen­­hager waren nun Voll-waisen und wurden von ihrem Grossvater, Chirurgus Dudli, betreut. Es ist kaum anzunehmen, dass sie im elterlichen Haus verblieben. Nach dem Hinschied ihres Vaters bemühte sich Gross­vater Dudli beim Gemeinderat Flawil, für die weitere Ausbildung des Sohnes, welcher das Medizinstudium ergriffen hatte, die nötigen Mittel herauszubekommen, damit er das Studium in Würzburg weiterführen und beenden könne. Der Rat erklärte sich dazu bereit, in der Meinung, dass der Sohn nicht den leichtsinnigen Lebensweg seines Vaters einschlagen sollte. Dem Studiosus wurde nebst der üblichen Wegzehrung auch ein Felleisen[2] angeschafft. Als ausgebildeter Arzt kehrte er zurück und praktizierte anschliessend elf Jahre im benachbarten Jonschwil. Am 30. April 1857 ist er dort ledigen Standes gestorben. Auch der jüngeren Tochter wollte der Gemeinderat den höheren Bildungsgrad öffnen, sie wurde in St.Gallen „verkostgeldet"[3].

 

Besitzerwechsel im Lindengut

 

Am 18. Juni 1838 wurde im Auftrag der Kinder des Hans Georg Lenggen­hager die Liegenschaft im Feld, bestehend aus dem Wohnhaus Nr. 28 und einer Scheune Nr. 29, dazu Hofräthi[4], Platz, Garten und etwas Wiesland, auf welchem sich eine wasserreiche Quelle befand, öffentlich versteigert. Zugeschlagen wurde die Liegenschaft dem Meist- und Letztbietenden, dem Präsidenten Matthias Baumann um 6050 Gulden. Der Versicherungswert stand damals bei 6500 Gulden, was einer stattlichen Liegenschaft ent­sprach. Es ist kaum anzunehmen, dass Präsident Baumann diesen Handel für seine eigenen Bedürfnisse tätigte. Denn schon zwei Jahre später, am 27. Juli 1840, wurde die Liegenschaft von einem Manne erworben, der sich noch weit mehr mit dem Handel von Liegenschaften und Gütern beschäftigte. Es war Johann Jakob Pfändler, Kantonsrat und Gastwirt zum „Rössli", Flawil. Zum Wohnhaus Nr. 28 und der Scheune Nr. 29 mit Hof­räthi, Platz und Garten wurden auch noch vier Jucharten [5] Wiesland miterworben. Im gleichen Handel übernahm J. J. Pfändler von Baumann zwei weitere Stücke Wiesland in der Gegend des Egelsees, welcher sich einst südlich des Hauptgebäudes der Landwirtschaftlichen Schule[6] befand. Dabei waren von Pfändler auch zwei kleinere Fabrikgebäude im Zentrum von Flawil erworben worden, wovon eines noch im gleichen Jahr von Färber Bettelhäuser übernommen wurde, welcher auf dem Areal den Grundstock für die heutige Färberei Hubatka[7] errichtete. Die Liegenschaft im Feld blieb aber im Besitz von Rössli-Wirt Pfändler. Es war nicht herauszufinden, wer sie in dieser Zeit bewohnte. Erst am 30. März 1847 gelang es ihm, die Liegenschaft an Hauptmann Johann Jakob Wiget um 6300 Gulden zu verkaufen.

 

Hauptmann Johann Jakob Wiget

 

erwarb die Liegenschaft, welche immer noch Haus und Scheune, Platz und Garten sowie auch zweieinhalb Jucharten Wies- und Ackerland umfasste. Interessant ist die Bemerkung im Kaufvertrag, dass ein Teil des Acker­bodens mit Hopfen bepflanzt war. Es müssen da Beziehungen des Rössli-Wirtes Pfändler zu der in Oberglatt bestehenden Brauerei bestanden haben. Es ist nicht bekannt, ob Hauptmann Wiget diese stattliche Liegen­schaft selber bewohn-te, doch ist dies anzunehmen. Damit hätte ein damals berühmter Flawiler sein Domizil hier aufgeschlagen. Hauptmann Johann Jakob Wiget war es nämlich, welcher die Flawiler Jäger-Kompanie Wiget Ende Oktober 1847 in den Sonderbundskrieg geführt hatte.

 

Nach der glücklichen Beendigung dieses Feldzuges machte Wiget mit seiner Kompanie, bei welcher 44 Flawiler Dienst leisteten, auf dem Weg zur Entlassung in St.Gallen Station in Flawil. Die Zurückkehrenden wurden von der Flawiler Bevölkerung als Helden des Sonderbundskrieges gefeiert, und fast jede Haushaltung wollte einen dieser Helden bei sich zu Hause am Tisch haben. Hauptmann Wiget soll von der Freitreppe seines Hauses herab eine Ansprache an die Flawiler gehalten haben, wobei er die freudige Anteilnahme der Bevölkerung verdankte und sich auch rühmend über den soldatischen Eifer seiner Jäger-Kompanie aussprach. Dem Hauptmann wurde von den Damen des Dorfes eine eigens gestickte seidene Fahne mit der Aufschrift "Dem Helden des Sonderbunds-krieges" überreicht.

 

Nur 14 Monate später erlag der kurz zuvor zum Major beförderte Johann Jakob Wiget einer Lungenschwindsucht. Damit hatte Flawil einen Helden weniger, für die Liegenschaft musste nach kurzer Zeit wiederum ein neuer Besitzer gesucht werden. Im Auftrag der Erben von Major Johann Jakob Wiget kam die Liegenschaft am 15. März 1849 erneut zur Versteigerung. Als Meistbietendem wurde der Besitz nun Hauptmann Johann Ulrich Steiger, wohnhaft im Feld, zugeschlagen.

 

Präsident und Hauptmann Steiger

 

Hauptmann Johann Ulrich Steiger hatte bei dieser Versteigerung laut Kaufbrief folgende Gebäude und Grundstücke erworben: Ein Wohnhaus Nr. 28, geschätzt auf 8000 Gulden, nebst der Scheune Nr. 29, samt Hofraum mit Platz und Garten, dazu vier Jucharten Ackerfeld und anderthalb Jucharten Waldung, an- und beieinander gelegen, auf dem Feld bei Flawil. Das Erkaufte grenzte Morgen (Osten) an Gemeindeammann Steiger und an Georg Steiger zur Pfalz, Mittag an die Landstrasse, Abend an Lorenz Dudli und an den Goldbach und gegen Mitternacht ebenfalls gegen den Goldbach. Auf dem Grundstück hafteten folgende Dienstbar­keiten:

Bei dem von J. Georg Steiger erkauften Acker hinter dem Hause ein unbedingtes Fahrwegrecht über das Strässchen an der Morgenseite. Ein weiteres Fahrwegrecht bestand auch über ein weiteres Strässchen zu den anstossenden Liegenschaften von Maler Pfändler und Georg Pfändler in der Pfalz.

 

Die Liegenschaften wurden gegeben in Ziel und Marchen, Rechten und Obliegenheiten, mit Nutzen und Beschwer-den in und mit welchen dieselben bisher inne-gehabt und besessen worden. Zu den Gebäuden wurde belassen, was Nuth, Nagel und Pflaster halt. Die Kaufsumme betrug 10840 Gulden, der Antritt erfolgte sofort, das Wohnhaus durfte aber erst ab Mitte April bezogen werden.

 

Aus all diesen Angaben geht hervor, dass die Liegenschaft damals ein Gelände umfasste, welches gegen Westen direkt an das Goldbachtobel grenzte. Bereits früher, um 1835, war anlässlich der Korrektion der Land­strasse vom Scheidweg nach Oberglatt auf der Südseite des heutigen Lindengutes die Strassenführung näher zu dem Herr-schaftshaus verlegt worden. Mit dem Bau der Eisenbahn in den Jahren 1853 bis 1855 wurde vermutlich auch die nördliche Grenze der Liegenschaft tangiert. Das offizielle Eisenbahnprojekt der St.Gallisch-Appenzellischen Eisen-bahn­gesellschaft sah übrigens auf der Höhe des heutigen Lindengutes den „Stationshof" (Bahnhof) Flawil vor, Es bedurfte einiger Anstrengungen, unter anderem auch einer Petition von fast 200 Flawilern, welche sich für einen Bahnhof am heutigen Standort einsetzten. Hauptmann Steiger wird sich kaum unter diesen Petitionären befunden haben, denn mit dem Bahnhofbau im Feld wäre der Wert der benachbarten Grundstücke bestimmt gestiegen.

 

In den Protokollbüchern der Gemeinde und der Korporationen stösst man nicht selten auf den Namen von Kavalleriehauptmann und Präsident Johann Ulrich Steiger. Er war sowohl im Gemeinde- wie im evangelischen Schulrat vertreten, auch die Dorfbürger konnten auf seine Mitarbeit zählen. Politisch ist Präsident Steiger kaum hervorgetreten, lediglich im Liegenschaftshandel war er rege tätig, was die Handänderungseinträge jener Zeit beweisen.

 

Es ist unklar, aus welchem Grund Jakob Steiger, aber auch dessen Sohn Johann Ulrich Steiger, den damals nicht allzu seltenen Titel Präsident führten. Titel waren grosse Mode. Vater und Sohn Steiger bewohnten die Liegenschaft in der Folge 33 Jahre, welche übrigens nach den Forschungen von Willi Stahel bis 1882 als "Feldegg" bezeichnet wurde. Es ist anzunehmen, dass in jener Zeit auch der Grundstock zum heutigen Baumbestand gelegt wurde. Mit der industriellen Entwick­lung Flawils kamen die führenden Geschlechter zu Wohlstand, grössere und kleinere Gartenanlagen, welche teilweise wie zum Beispiel in der "Blumenau» [8] von einem eigens angestellten Gärtner betreut wurden, waren speziell im Feldquartier sichtbare Zeichen davon, dass es sich deren Besitzer leisten konnten.

 

Als Fabrikant Huldreich Ottiker sich um 1881 um einen standesgemässen Landsitz für sich und seine Frau umsah, kam es ihm sehr gelegen, dass sich Johann Ulrich Steigers Sohn nicht abgeneigt zeigte, über Verkaufs­absichten zu unterhandeln. Neben der stattlichen Liegenschaft zur „Feldegg“, wie diese damals hiess, war es auch der grosse Bodenbesitz mit Bachanstoss, welcher ihm dienlich werden konnte.

 

Die Familien Ottiker und Schiess

 

Am 18. Februar 1882 kam folgender Kaufvertrag zustande:

,.Herr Präsident Johann Ulrich Steiger, auf'm Feld, verkauft an Herrn Gemeinderath Heinrich Ottiker, Fabrikant auf'm Feld in Flawyl, nachstehendes Heimwesen:

1. Haus No.48 assekuriert 40000 Fr., ferner 1 Scheune No.49, 9000 Fr., ein Geschäftshaus No. 50 mit Hofstatten, Platz, Garten und Baumgarten, 69 Aren und 17,4 Quadratmeter umfassend, auf'm Feld in Flawyl gelegen, grenzt Morgen an Herrn Hauptmann Steiger-Rietmann, Mittag an die Landstrasse, Abend an Johann Baptist Edelmann und Mitternacht an die Eisenbahn.

2. Zirka 4 Jucharten oder 176 Aren Hauswiese unterhalb der Eisenbahn sowie 30 Aren anstossenden Waldboden am Tobelhang.

3. 1,62 Aren 'Wiese, die Feldwiese, grenzt Morgen an Witwe Weyer, Jakob Feurer und Georg Steiger, Kirchlers, Mittag an Conrad Wiget, Abend an Hauptmann Steiger-Rietmann und die Gebrüder Steiger und gegen Mitter­nacht an Jacques Steiger-Steiger und die Landstrasse.

 

An Dienstbarkeiten waren vorhanden:

Zu Ziffer 1: Auf der Stelle, wo sich das Dolenwerk[9] des Moosmannschen Hauses durchzieht, darf laut Kaufvertrag vom 18. März 1851 niemals gebaut werden.

Zu Ziffer 3: Den angrenzenden Besitzern muss auf der Abendseite dieses Grundstückes das bisherige Fahrwegrecht gewahrt werden, so weit die gegen Abend angrenzende Wiese des Herrn Steiger-Rietmann reicht. Dazu kommt für Witwe Weyer und J. Steiger-Steiger das Quellen- und Teuchel­fuhrrecht.

Dazu gehört:

Zu Ziffer 1: Das bisherige Quellen- und Teuchelleitungsrecht zum Brunnen

hinter dem Haus. Vor dem Haus darf in der Moosmannschen Wiese nur in laut Kaufvertrag vom 18. März 1851 bedungener Weise gebaut werden.

Zu Ziffer 2: Dazu gehört das Fahrwegrecht unter der Eisenbahn hindurch. Die Liegenschaft wird gegeben in Ziel und Marchen, Rechten und Obliegen­heiten, mit Nutzen und Beschwerden wie solche bisher besessen, um den Kaufpreis von 53000 Franken.

 

Nach der käuflichen Übernahme wurde das stattliche, an der Landstrasse nach St.Gallen liegende Haus immer mehr zum herrschaftlichen Landsitz ausgebaut. Nachdem schon Vater und Sohn Steiger dem Haus und der Scheune noch ein Geschäftshaus zugesellt hatten, wurde nun auch die Aus- und Umgestaltung des Parkes an die Hand genom-men. Neben einheimischen Bäumen und Sträuchern konnte man auch fremdländische Pflanzen bestaunen.

Springbrunnen mit dem Geschmack jener Zeit entsprechenden Brunnensäulen mit kunstvollen Figuren wurden eingerichtet oder ausgebaut. Es entstand ein Gartenhaus mit prachtvollen Glasfenstern und Balkonen, in dem sich die Herrschaften im Sommer des kühlenden Schattens erfreuten und dort auch Mahlzeiten und Tee und Kaffee servieren liessen. Auch die Zimmer des herrschaftlichen Hauses wurden den zeitgemässen Bedürfnissen entsprech-end ausgebaut, ein Prunkzimmer zeugt heute noch von der damaligen Pracht. Der westliche Springbrunnen stand vor einer kunstvoll angelegten Tuffsteingrotte und soll, speziell bei bengalischer und später mehrfarbiger elektri-scher Beleuchtung einen märchenhaften Anblick geboten haben. Das Wasser plätscherte über drei hübsche Brunnenbecken, welche von verschiedenen Röhren bewässert und durch Darstellungen in Tier- und Menschen-gestalt getragen wurden. Im östlichen Brunnenbecken, welches eine nierenförmige Brunnenschale aufwies, war es ein Schwan, welcher durch seinen Schnabel für die Wasserzufuhr besorgt war. Im Garten verteilt, waren auch Statuen zu sehen. Springbrunnen sprudelten zahlreich in jener Gegend, welche eine Anzahl stattlicher Grundstücke mit Landstrassenanstoss aufwies. Sowohl die heutige "Akazie" wie auch das damalige Haus Steiger-Rietmann, später Munz, das nachfolgende Haus und ganz draussen, wo der Glattstich begann, besass auch die "Blumenau, kunstvolle Wasserspiele, die in die Höhe sprudelten. Das Wasser wurde von eigenen Quellen geliefert.

 

Mit der Übernahme der Liegenschaft dürfte das Besitztum auch zur heutigen Bezeichnung „Lindengut» gekommen sein. Das Lindengut wurde zum Refugium von Fabrikant Huldreich Ottiker. Nach strengen Arbeitstagen zog er sich gerne in sein Haus zurück, um sich im Kreise seiner Familie von seinen vielen Verpflichtungen beruflicher und politischer Art auszuruhen. Vom Lindengut gingen Impulse aus zu technischen Verbesserungen in der Weberei, hier in seinem Privatbüro beschäftigte er sich auch mit Gemeinde­angelegenheiten, solchen der Schule und der Kirche. In seine Amtszeit als Schulratspräsident fiel der Bau einiger Schulhäuser auf Gemeindegebiet, er war auch ein eifriger Förderer der Flawiler Jugend­feste. Niemand weiss, wie oft er von seinem Leibkutscher die Pferde anspannen liess, um seinen vielen Geschäften nachzugehen. Als Präsident der Evangelischen Kirchgemeinde setzte er sich tatkräftig für den Neubau einer Kirche im Feld ein. Um die Jahrhundertwende war es gelungen, direkt südlich des Lindengutes eine ideal für den Kirchenbau geeignete Liegenschaft zu erwerben. Fabrikant Huldreich Ottiker war es nicht vergönnt, die Einweihung der schönen neuen evangelischen Kirche im Feld zu erleben. Am 1. Februar 1909 schied er aus dieser Welt.

 

Frau Ottiker-Müller

 

Nach dem Tod ihres Mannes lebte Frau Ottiker zusammen mit ihren Dienstboten allein im Hause. Im ehemaligen Geschäftshaus hinter dem Herrenhaus wohnte Kutscher Schirmer mit seiner Familie, welcher aber seinen Herrn nur wenige Jahre überlebte. Dem Kutscher war die Pflicht übertragen worden, den grossen Kutschen- und Schlittenpark, welcher zum Teil besonders schöne Fahrzeuge umfasste, in Ordnung zu halten. Die geräumige Stallung für die Pferde dürfte zu den vornehmsten jener Zeit gezählt haben. Als Kutscher Schirmer im Ersten Weltkrieg seinem Herrn in den Tod nachfolgte, oblag es seiner Frau und den Kindern, sowohl im Wohnhaus wie auch im Garten für Ordnung zu sorgen. Im Frühling waren Wege und Anlagen von Jät freizuhalten, und im Herbst musste zentnerweise Laub gewischt werden.

 

Frau Ottiker führte mit ihren Dienstboten ein eher einfaches Leben. Die Milch für den Haushalt wurde von Landwirt Steiger bezogen, und ein Teil des für den Garten benötigten Mistes wurde von den Rossbollen der Pferde auf den Strassen Flawils geholt. Im Haus und im Park wurde auf peinliche Ordnung geachtet. Neben der Kutscherwohnung war ein Hühnerstall eingerichtet, wobei eine genaue Kontrolle dafür sorgte, dass kein Ei in die falschen Hände kam. 

 

Im März 1936 starb Frau Ottiker-Müller im hohen Alter von 84 Jahren. Mit ihr wurde eine der letzten Vertreterinnen einer Lebensauffassung, welche Zucht und Ordnung als christliches Gebot hielt, aber auch in vielen Fällen ein Herz für Bedürftige der Firma und der Gemeinde hatte, zur letzten Ruhe gebettet.

 

Für kurze Zeit stand nun das Haus wieder leer, wie das vermutlich schon einige Male der Fall gewesen war. Bis dann der ehemalige Ratsschreiber Dr. Emil Schiess als Schwiegersohn des Firmeninhabers der nun in Habis Textil AG umgetauften Weberei Habisreutinger-Ottiker mit seiner jungen Frau das Lindengut als Wohnsitz wählte.

 

Familie Dr. Emil Schiess-Habisreutinger

 

So kehrte im Jahre 1937, nach über 50 Jahren, wieder junges Leben ein im Lindengut. Vorerst wurden das Haus und auch die Gartenanlagen wieder instandgestellt, so dass die neuen Bewohner ihren Wegzug aus Herisau nicht zu bereuen hatten. Wieder bot das stattliche Herrschafts­haus des Lindengutes einem vielbeschäftigten Manne Ruhe und Erholung, welche er in den wenigen Ruhestunden, die ihm zur Verfügung standen, an der Seite seiner Gattin gerne genoss. Um den einzigen Sohn Rolf nicht unnötigen Gefahren auszusetzen, wurden die beiden Springbrunnen stillgelegt. Leider wurde dabei auch das reich geschmückte Mittelteil der westlichen Brunnensäule entfernt.

 

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 wurde auch Dr. Emil Schiess zum Aktivdienst einberufen. Seine Offizierslaufbahn führte bis zum Oberst; am Ende des Krieges wurde er mit dem Kommando eines Territorialkreises betraut. Über 2000 Diensttage, dazu noch ein reiches Mass an Verantwortung in der Unterneh-mensführung, machten die wenigen Stunden der Musse, welche da noch übrig blieben, zu seltenen Kostbarkeiten. Sie waren oft ausgefüllt mit der Vorbereitung zu zahllosen Sitzungen der Schulgemeinde, deren Präsidium Dr. Emil Schiess einige Jahre anvertraut war. Während der Aktivdienstzeit 1939 bis 1945, wie schon von 1914 bis 1918 im Ersten Weltkrieg, bekam auch das Lindengut Einquartierung. Meist waren es Kavallerieeinheiten, welche die

grosszügigen Stallungen gerne benutzten. Wie in den besten Zeiten des alten Flawiler Fuhrleutewesens war dann auf dem Areal des Lindengutes Hufgeklapper und Wiehern der Rosse zu hören. Die Stallwache hatte für Ordnung und militärische Betriebsamkeit zu sorgen, der junge Sohn des Hauses hat an dieser kleinen, lebendigen Heerschau seine Freude gehabt. "Einquartiert» war er seinerseits in einem eigens von einem Maler[10] für ihn ausgestatteten Kinderzimmer. Zusammen mit Nachbarsbuben, unter anderen auch mit dem Sohn Martin von Pfarrer Heidelberger, der damals in der Akazie wohnte, hat er nach echter Bubenart kleine Streiche verübt, welche sich aber in Grenzen hielten.

 

Im Januar 1945 verunglückte Frau Schirmer, die Witwe des Kutschers, beim Reinigen des Vordaches der Eingangstüre tödlich.

 

Rolf Schiess erlebte im Lindengut, welches so richtig zu seinem Elternhaus wurde, glückliche Jugendjahre. Seine weitere Ausbildung brachte es mit sich, dass er erst nur noch die Wochenenden, später die Pausen zwischen weiteren Etappen der Fortbildung zu Hause verbringen konnte. Es wurde stiller im Lindengut.

 

Als Vater Schiess nach rastlosem Einsatz für die Firma, die Gemeinde und die Armee das 70. Altersjahr erreichte, zog er sich mehr und mehr aus der Geschäftsleitung zurück, um nun das nachzu­holen, was verständlicherweise bisher zu kurz gekommen war: das Familienleben. Es waren ihm noch acht Jahre des Beisammenseins mit seiner Frau vergönnt, wovon die letzten Monate an ihrem neuen Wohnort „Waldhof". In dieser Zeit blieben beide nicht untätig. Für die Kirche Oberglatt wurde durch eine grosszügige Schenkung der Einbau einer neuen Orgel in die Wege geleitet sowie der Bau einer Leichenhalle ermöglicht. Niemand weiss, wo überall sonst noch ohne grosse Worte stille Hilfe geleistet wurde. Am 8. November 1972 wurde dann Dr. Emil Schiess im Alter von 78 Jahren zur letzten Ruhe geleitet. Die Witwe lebte bis zuletzt im "Waldhof". Sie hatte für die Arbeitnehmer der Firma Habis Textil AG, aber auch für Bedürftige der Gemeinde ein warmes Herz. Sie unter­stützte die Bestrebungen des Heimat- und Naturschutzes, aber auch gemeinnützige Werke unserer Gemeinde. Mit zunehmendem Alter nahmen ihre Kräfte ab. Frau Julita Schiess-Habisreutinger zog sich mehr und mehr zurück. Im Jahre 1981 ist sie im Alter von 76 Jahren zur letzten Ruhe eingegangen. Sie fand ihre Ruhestätte an der Seite ihres Gatten in Locarno.

 

Seit dem Umzug der Familie Schiess in den Waldhof stand das Lindengut leer und verlassen und wartete auf neue Verwendung, Rund 200 Jahre hat dieses Haus den Stürmen der Zeit standgehalten. Geschlechter und Familien sind gekommen und gegangen. Kinder kamen auf die Welt und Leute sind darin gestorben. Das Haus überstand die Besetzung unseres Dorfes durch französische und österreichische Truppen zur Zeit der Helvetik, ebenso die grosse Hungersnot von 1816/17. Die gewerbliche und industrielle Entwicklung unseres Dorfes hinterliess ihre Spuren, wie auch die Unruhen des Sonderbundskrieges. Der gellende Pfiff der ersten Lokomotive bei der Eröffnung der an der Liegenschaft vorbeiführenden Eisenbahn brachte den Übergang zum fast unbegrenzten technischen Zeitalter. Fussgänger wurden vom Velofahrer überholt und die Kutschen und Pferdefahrzeuge vom Auto abgelöst. Manches an Traurigem und Heiterem, was in diesem Bericht nicht zu Worte gekommen, wüssten die Gebäude und erst recht die alten Bäume zu erzählen. Manches, was in der vergangenen Geschichte unserer Gemeinde von Bedeutung war, hat in dieser Liegenschaft seinen Anfang genommen oder wurde hier mitgeprägt. Hier drin ist, angefangen mit der Fuhrleute-Tradition, dem Flawiler Kommandanten der Jägerkompanie im Sonderbundskrieg und den Weberei-fabrikanten ein Stück Flawiler Kultur, Gewerbe- und Industrie­geschichte enthalten, der die heutigen Bewohner Flawils Respekt erweisen sollten.

 

Der grosszügigen Schenkung von Rolf Schiess und der Firma Habis Textil AG anlässlich des 125jährigen Bestehens der Firma, der spendefreudigen Flawiler Bevölkerung, dem Beitrag der Gemeinde Flawil sowie den Zuschüssen kultureller Fonds ist es zu verdanken, dass das Lindengut nicht nur als kleines Kulturzentrum mit dem Flawiler Ortsmuseum erhalten bleibt; auch aus kulturhistorischer Sicht ist eine Liegenschaft gerettet worden, die in dieser Kompaktheit und Grössenordnung ihresgleichen sucht.

 



[1] UBS AG

[2] Lederner Reisesack, Tornister

[3] Gegen Bezahlung der Kost unterbringen

[4] Hofraum

[5] In der Deutschschweiz seit 1836 einheitlich 36 Aren

[6] Bildungszentrum Mattenhof

[7] Derzeit Migros-Areal

[8] Blumenaustrasse 15

[9] Eingedolte / eingedeckte Gewässer

[10] Paul Hinterberger, Herisau, 1921-2014

 

(Anmerkungen: Urs Schärli / 2019)